Abstraktionsvorräte
Inventories of Abstraction
Comments are closed.
Comments are closed.
Yves Netzhammer
Abstraktionsvorräte
2009, Palazzo Strozzi, Italien
Ausseninstallation im Innenhof des Palazzo Strozzi,
Sound, Filme, Objektparkour
Yves Netzhammer
Inventories of Abstraction
2009, Courtyard of Palazzo Strozzi, Italy
Sound, movie, installation
Abstraktionsvorräte – wie fast alle Arbeiten Yves Netzhammers trägt auch diese ursprünglich für den Palazzo Strozzi in Florenz produzierte und dort erstmalig gezeigte Installation einen sperrigen Titel. «Abstraktion», vom lateinischen «abstrahere» – abziehen, entfernen, trennen – stammend, bezeichnet für gewöhnlich einen Denkprozess, der von der Betrachtung eines konkreten Gegenstands oder Vorgangs zur Bildung eines Begriffs führt. Dieser Vorgang funktioniert allerdings nur, wenn bestimmte individuelle Eigenschaften des betrachteten Objekts vernachlässigt werden.
Kann man Abstraktionen sammeln, anhäufen und lagern? Und wenn sie dann wohlgeordnet in einem Speicher liegen, in einem Raum, den man durchschreiten, dessen Inventar man betasten, fühlen, hören und möglicherweise sogar riechen kann – kann man dann diesen so sinnlich um einen herum angeordneten Fundus noch als «abstrakt» bezeichnen?
Netzhammers «Inventar der Abstraktionen» kreiert in der Tat eine kontinuierliche Spannung zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit im erkenntnistheoretischen Sinne. Die konkrete Raumsituation, eine begehbare, an ein Wildgehege erinnernde Rauminstallation, wird beispielsweise durch den Einsatz von kleinen Spiegeln an mehreren Stellen «aufgebrochen» und in zweidimensionalen Illusionsräumen weitergeführt. Darüber hinaus sind in den labyrinthartigen Parcours an sechs Stellen Stationen einer Videoanimation eingestreut. Auf Bildschirmen in offenen, an Futterstände für Damwild oder Miniaturausgaben von Hochständen gemahnende Hüttchen präsentiert, schaffen sie gleichsam Zugang zu einer digitalen Parallelwelt. Eine Klangarbeit von Bernd Schurer erfüllt den Raum und begleitet somit auch die Videoanimation. Die Soundinstallation unterstreicht ein weites Spannungsverhältnis, das die Abstraktionsvorräte durchzieht: Netzhammers Installation steckt ein Territorium in einem größeren Raum ab, ohne ihn ganz auszufüllen, der umlaufende Zaun ist an mehreren Stellen durchbrochen – Schurers Klänge aber lassen sich nicht eingrenzen, sie unterlaufen subversiv alle in Szene gesetzten Strategien von Inklusion und Exklusion.
Den inhaltlichen Rahmen für Netzhammers Abstraktionsvorräte bietet das Bildmaterial des Forstwesens, Sinnbild der kultivierten Natur. Und in der Tat, abgesehen vom Holz der Gehegearchitektur und einer kleinen Anzahl weiterer Gegenstände sind die von Netzhammer verwendeten Materialien zur Darstellung dieses «Naturparks» weitgehend artifiziell.
Obgleich Farbspektrum und Ausstattung dieses Jägerambiente auf den ersten Blick eher nordeuropäisch konnotiert sind, erschließt sich der Florentiner Kontext, für den die Abstraktionsvorräte ursprünglich erstellt wurden, auf anschauliche Weise, wenn man die Installation betritt. Das Wildgehege ist mit Objekten angefüllt, die auf den ersten Blick unvollständig und deplaziert wirken: Halbe Rehe, an nicht vorhandene Wände gelehnte Leitern und Tische, denen auf einer Seite die Beine fehlen, sorgen zunächst für Verwirrung. Zusammenhänge ergeben sich erst, wenn sich der Betrachter in Bewegung setzt, Blickwinkel und Positionen wechselt. Dann ergänzen sich Elemente, die, isoliert betrachtet, verstümmelt oder zusammenhanglos erscheinen, zu sinnvollen Einheiten und neuen Bildkompositionen. Die Inspirationsquelle der Florentiner Malerarchitekten um Filippo Brunelleschi, die im 15. Jahrhundert Techniken zur Darstellung der Zentralperspektive und zur Ermittlung der Fluchtpunkte entwickelten, liegt auf der Hand. Netzhammer macht die Bildrhetorik der Renaissance im wahrsten Sinne des Wortes räumlich zugänglich.
Vergnüglich und nachdenklich zugleich stimmt Netzhammers Spiel mit Versatzstücken aus der Kunstgeschichte, wenn er beispielsweise einer Vogelattrappe das Bild eines gespaltenen Steins anheftet und davor einen dem Bild entsprechenden realen Stein positioniert. Die Vorbilder dieser Illustration der klassischen Zeichentheorie stellt Netzhammer mit seiner Objektwahl allerdings infrage: Bei René Magritte war das Verhältnis zwischen Original und Abbild noch deutlich geregelt – das Bild einer Pfeife ist keine Pfeife. Joseph Kossuth ergänzte diese Reflexion durch die Gegenüberstellung von Gegenstand und Abbild mit dem entsprechenden lexikalischen Eintrag, der verdeutlichte, dass auch ein Gegenstand Platzhalter einer Abstraktion sein kann. Netzhammers physischer Stein aber scheint die Kopie eines Objekts aus einer seiner Videoanimationen zu sein, was nicht nur die Frage nach der Chronologie von Gegenstand und Abstraktion neu aufwirft, sondern auch ein Überdenken der Rollen von Bildproduzent und -rezipient einfordert.
Was zunächst als eine autoreferenzielle Illustration von Produktionsästhetik und Bildrhetorik erscheinen mag, überführt Netzhammer mit der ihm eigenen Dialektik in eine Entdeckungsreise zur Rolle des Betrachters. Die Installation birgt eine unzählige Vielfalt von Bildmöglichkeiten, die nur durch den jeweiligen Standpunkt und Blickwinkel des Besuchers realisiert werden. Ebenso ist die narrative Struktur der bewegten Bildsequenzen in hohem Grade vom Zuschauer abhängig. Da es keinen vorgeschriebenen Verlauf von einer Videostation zur anderen gibt, hängen die Reihung der Videosequenzen und die Interferenz mit den durch die räumliche Situation geschaffenen Sinneseindrücken vom jeweiligen Weg ab, den der einzelne Besucher einschlägt. Im gleichen Maße, wie Netzhammer die Spielregeln der Bildproduktion offen legt, verdeutlicht er die Bedingungen der Rezeption. Was in diesem Katalogtext als theoretische Reflexion zur Ästhetik erscheinen mag, funktioniert in Netzhammers Abstraktionsvorräten, dem Titel zum Trotz, als körperliche Erfahrung, die den Betrachter auf sich selbst zurückwirft.
Von der Feststellung, etwas «von hier aus» sehen zu können, das wenige Zentimeter weiter etwas ganz anderes zu sein scheint, zu der Einsicht zu gelangen, dass die eigene Sichtweise insofern beschränkt ist, als niemand in der Lage ist, alle möglichen Perspektiven auf einen Gegenstand einzunehmen, mag ein großer Schritt sein, Netzhammers Abstraktionsvorräte sind jedoch eine praktische Schule dieser Erfahrung.
Julia Draganovic