Tage ohne Stunden
Days Without Hours
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Tage ohne Stunden
Galerie Christinger de Mayo
13. Juni – 25. Juli 2015
http://www.christingerdemayo.com
Auf der sicheren Säule
Meiner Verse, in denen ich überdaure,
Fürcht ich den künftigen Ansturm
Der Zeiten und des Vergessens nicht;
Denn wenn unverwandt der Geist in sich
Den Widerschein der Welt betrachtet,
Wird er zu seinem Plasma, und aus der Welt,
Nicht aus dem Geist, erwächst die Kunst.
So prägt der Tafel der äussere Augenblick
Sein Merkmal ein und dauert in ihr fort.
Ricardo Reis (Fernando Pessoa), 1. Ode, 1924.
Die Gestalt des Fernsehschauenden, einzeln oder in Gruppe, im Widerschein des flackernden Lichts des TV-Gerätes, ist beim Abendspaziergang mit Hund in den Fenstern der Stadt allgegenwärtig. Wie Kaninchen vor einer Schlange, verharren sie im Bannkreis der bewegten Bilder und dem Spaziergänger kommen unwillkürlich Orwells “1984” und der Film “The Wall” in den Sinn, den symbiotischen, wechselwirksamen Kreis zwischen dem hypnotisierten Betrachter und medialer Verführungs- und Kontrollkraft illustrierend.
Für seine zweite Einzelausstellung bei Christinger De Mayo unterwandert Yves Netzhammer diesen medialen Topos mit seiner Installation “Tage ohne Stunden” gekonnt. Der direkte Betrachter ist aus dem geschlossenen Kreislauf der Reproduktion digitaler Bilder und seiner Rezeption entfernt, wir sind aufgefordert ihn uns vorzustellen und zu ersetzen. Da wir allerdings ausserhalb des geschlossenen Kreises stehen, verändert sich die Beziehung zwischen dem hermetischen System der digitalen Zeichen und uns. Die hier durch den Künstler vorgeschlagene Lesart eines sich im digitalen multiplizierenden, zutiefst menschlichen Universums, versteht die Ästhetik des durch das Kunstwerk beschriebenen Raumes, als transformative Kraft. Umberto Eco schreibt dazu: “andererseits bringt jeder Konsument bei der Reaktion auf das Gewebe der Reize und dem Verstehen ihrer Beziehungen eine konkrete existentielle Situation mit […], (so) dass das Verstehen der ursprünglichen Form gemäss einer individuellen Perspektive erfolgt. Im Grunde ist eine Form ästhetisch gültig gerade insofern, als sie unter vielfachen Perspektiven gesehen und aufgefasst werden kann und dabei eine Vielfalt von Aspekten und Resonanzen manifestiert, ohne jemals aufzuhören sie selbst zu sein.” Und weiter unten: “Die Poetik des ‘offenen’ Kunstwerkes strebt, wie Pousseur sagt, danach, im Interpreten ‘Akte bewusster Freiheit’ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpfbaren Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerkes vorschriebe.”
Wenn wir dies ernstnehmen, dann analysiert Yves Netzhammer den eingangs beschriebenen Bannkreis nicht einfach, er öffnet ihn und liefert uns ein mögliches Instrumentarium zur Befreiung. / Damian Christinger